Stuttgarter Konsens 2020
ZUR REFORM DES STÄDTEBAURECHTS
In der „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ haben sich die Bauminister Europas 2007 für eine Stärkung der Städte nach dem Leitbild der europäischen Stadt ausgesprochen.
Um soziale Segregation, politische Disruption, ökonomisches Downgrading sowie Einseitigkeit und Monotonie in der Stadtentwicklung zu vermeiden, empfiehlt die Leipzig-Charta Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Bildung, Handel, Kultur und Freizeit wieder stärker miteinander zu mischen. Dies wird durch die besondere bauliche Kompaktheit der europäischen Stadt er-reicht, die nicht nur soziale und funktionale Vielfalt, sondern auch den dringend erforderlichen Klimaschutz ermöglicht. Eine hohe urbane Dichte ist energieeffizienter, verringert den Landflächenverbrauch, minimiert den Verkehr und ist damit durch geringeren CO2-Ausstoß klimafreundlicher, erhöht die Effizienz des ÖPNV und befördert Fußläufigkeit und Fahrradmobilität („Stadt der kurzen Wege“). Eine hohe Bevölkerungsdichte ist die wirtschaftliche Voraussetzung bestmög-licher Versorgung für das alltägliche Leben. Gleich- zeitig betont die Leipzig-Charta die zunehmende Bedeutung baukultureller Aspekte in der Stadtplanung. Eine schöne Stadt mit einer hohen Gestaltqualität des öffentlichen Raums ist nicht Luxus, sondern Notwendigkeit und schafft wichtige Impulse für das Wachstum. Schöne Stadträume, gut gestaltete Straßen und Plätze sowie öffentliche Parks sind sowohl die Orte des demokratischen Austauschs, als auch integraler Bestandteil und notwendige Ergänzung dichter Stadtstrukturen im Sinne einer „doppelten Innenentwicklung“. Darüber hinaus entspricht es einer besonderen planerischen Verantwortung, einem gesunden Leben in unseren Städten mit sauberer Luft und Ruhe gerecht zu werden.
Bislang fehlt in vielen Stadtquartiersentwicklungen und -entwürfen die Umsetzung dieser Qualitäten, weshalb die Ziele der Leipzig-Charta nicht erreicht werden. Dies hat mehrere Ursachen. Eine entscheidende Ursache liegt in den Regelungen des Städtebaurechts, die noch nicht an die Ziele der Leipzig-Charta ange-passt wurden.
Das Baugesetzbuch (BauGB) und die Baunutzungs-verordnung (BauNVO) entsprechen nicht mehr den Zielen der Leipzig-Charta und den heute noch einmal verschärften Anforderungen an eine Stadt, die den Forderungen nach Ressourcenschonung und Klimaschutz, bezahlbarem Wohnraum und sozialem Zusammenhalt gerecht wird. Die Baunutzungsverordnung (BauNVO) in ihrer aktuellen Fassung mit ihren gebietsseparierenden Nutzungskatalogen und Dichteobergrenzen, sowie die Bestimmungen der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA-Lärm) arbeiten den Forderun-gen der Leipzig-Charta vielmehr entgegen, weil sie funktionale Mischung und urbane Dichte behindern.
Grundsätzlich gilt: Regeln sind notwendig! Rechtssicherheit und stützendes Rahmenrecht sind die Grundlage für eine qualitätvolle städtebauliche Entwicklung in unserem demokratischen Rechtsstaat. Zeitgemäßes integriertes Planen und Handeln erfordern jedoch Regeln, die den aktuellen Planungszielen auch tatsächlich entsprechen.
Um das Bewusstsein für gemeinsame Werte, Geschichte, Maßstäblichkeit und Schönheit der Stadt zu stärken, ist es daher an der Zeit, das in der Leipzig-Charta formulierte Leitbild der europäischen Stadt nun auch gesetzgeberisch zu unterstützen und umzusetzen.
SOZIALE UND FUNKTIONALE VIELFALT VERSUSBAUNUTZUNGSKATALOGE BAUNVO
Das vielfältige Stadtquartier muss prinzipiell die soziale und funktionale Vielfalt und Mischung gewährleisten. Im Sinne dieser Vielfalt eines Quartiers sind die Nutzungskataloge der Baugebietstypen der BauNVO deshalb grundsätzlich zu überarbeiten:
• Das „Kleinsiedlungsgebiet“ (§ 2 BauNVO) und das „Reine Wohngebiet“ (§ 3 BauNVO) sind überholt und sollten gestrichen werden.
ERLÄUTERUNG
Die Streichung des Kleinsiedlungsgebietes passt die Baunutzungsverordnung lediglich an die heutigen Lebensverhältnisse der Menschen an. Ein Bedürfnis für die Festsetzung von Kleinsiedlungsgebieten in Bebauungsplänen ist nicht mehr ersichtlich. Das reine Wohngebiet sollte als eigene Baugebietskategorie gestrichen werden, da es als Baugebiet mit ganz einseitiger Nutzungsstruktur dem der Leipzig Charta zugrunde liegenden Gedanken der Nutzungsvielfalt widerspricht. Die Streichung des Baugebietstyps des reinen Wohngebiets hat dann auch unmittelbare Konsequenzen für Anwendung des § 34 Abs. 2 BauGB.
Im „Allgemeinen Wohngebiet“ (§ 4 BauNVO) bedarf es einer stärkeren Öffnung des Nutzungskataloges für Gebäude mit wohnverträglichem Gewerbe. In § 4 (3) sollte ergänzt werden, dass auch Gebäude für die Berufsausübung freiberuflich Tätiger und solcher Gewerbetreibender, die ihren Beruf in ähnlicher Art ausüben, ausnahmsweise zulässig sind.
ERLÄUTERUNG
Nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO sind in allgemeinen Wohngebieten bereits die der Versorgung des Gebiets dienenden Läden, Schank- und Speisewirtschaften so-wie nicht störende Handwerksbetriebe zulässig. Ausnahmsweise zulässig sind nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO sonstige nicht störende Gewerbebetriebe. Die Zulässigkeit freiberuflicher und ähnlicher Nutzungen bestimmt sich hingegen nur nach § 13 BauNVO. In allgemeinen Wohngebieten sind hierfür nur Räume zu-lässig. Nach dem Vorschlag wären in allgemeinen Wohngebieten zumindest ausnahmsweise auch Gebäude für diese Nutzungen zulässig. Gesetzgebungstechnisch könnte auch daran gedacht werden, die von § 13 BauNVO erfassten Nutzungen unmittelbar in die jeweiligen Nutzungskataloge der Baugebietsvorschriften aufzunehmen und § 13 BauNVO zu streichen.
In der Zweckbestimmung von „Kerngebieten“ (§ 7 BauNVO) bedarf es einer generellen Aufnahme von Wohnnutzung.
VORSCHLAG
§ 7 (1) Kerngebiete dienen der Unterbringung von Handelsbetrieben, zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur sowie ggf. auch dem Wohnen. (2) und (3) können unverändert bleiben.
ERLÄUTERUNG
Nach § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO sind sonstige Wohnungen nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans zulässig. Nach § 7 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO sind Wohnungen ausnahmsweise zulässig. Die Aufnahme von Wohnnutzungen in die Zweckbestimmung des Kerngebietes würde dazu führen, dass die Gemeinden freier darin sind, von § 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO Gebrauch zu machen und sonstige Wohnungen im Kerngebiet zuzulassen. Gerade in mittelgroßen Städten besteht häufig ein Bedürfnis dafür, in den Innenstädten einerseits Kerngebiete festzusetzen und anderseits Wohnnutzungen oberhalb des Erdgeschosses zu ermöglichen. Dies ist nach der aktuellen Rechtslage nicht möglich, da das Wohnen nicht zur Zweckbestimmung des Kerngebietes gehört.
Die Gemeinden müssen nach dem Vorschlag in der Planung darüber entscheiden, inwieweit Wohnnutzungenmit den sonstigen Nutzungen in dem konkreten Kerngebietvereinbar sind. Die Abgrenzung zum urbanen Gebiet und zum Mischgebiet ergibt sich im Wesentlichenaus dem Bedürfnis nach der Zulässigkeit großflächiger Einzelhandelsnutzungen in innerstädtischenKerngebieten. Auch das besondere Wohngebiet hilfthier als Alternative nicht weiter, da auch nach § 4aBauNVO i.V.m. § 11 Abs. 3 BauNVO großflächige Einzelhandelsnutzungen in besonderen Wohngebietennicht zulässig sind.
Im „Gewerbe- und Industriegebiet“ (§§ 8, 9 BauNVO) muss die dem primären Gebietscharakter widersprechende Ansiedlung von Nutzungen wie Handel, Beherbergungsbetriebe usw. effektiver verhindert werden. Gewerbe- und Industriegebiete sollten ausschließlich nur Nutzungen zugeordnet werden, die tatsächlich grundlegend stadtunverträglich sind und nicht „Gewerbebetriebe aller Art“.
2. FUNKTIONALE VIELFALT VERSUS TA-LÄRM
Der Schutz vor Lärm in der funktional gemischten Stadt ist ausdrücklich zu gewährleisten. Um eine funktionale Mischung in der Stadt zu ermöglichen bedarf es jedoch einer Harmonisierung des Lärmschutzes im Immissionssschutzrecht (BImSchG). Ebenso wie zum Schutz vor Verkehrslärm sollte der Schutz vor Gewerbelärm durch passive Schallschutzmaßnahmen ermöglicht werden. Die technischen Möglichkeiten des aktiven und passiven Lärmschutzes müssen durch geänderte immissionsschutzrechtliche Vorgaben auch für gewerbliche Nutzungen und Freizeitlärm möglich gemacht werden, denn die Lebensfähigkeit und Nachhaltigkeit der europäischen Stadt wird erst durch die funktionale Mischung und Vielfalt ermöglicht. Mit der heutigen Wirtschaftsstruktur, in der industrielle und gewerbliche Betriebe mit erheblichem Produktionslärm die Ausnahme darstellen, und durch den technischen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte bei Schallschutzfenstern, ist das zweiteilige Lärmrecht überholt.
Die technischen Möglichkeiten des passiven Lärmschutzes sollen als „letztes Mittel“ zulässig sein.
Grundsätzlich gelten:
Abstand
Aktiver Lärmschutz – Passiver Lärmschutz
3. URBANE DICHTE VERSUS DICHTE-OBERGRENZEN DER BAUNVO
Die Anpassung des §17 BauNVO gem. Referentenent-wurfes BMI vom 12.11.2019 wird begrüßt. Die Aufnahme von „Orientierungswerten“ anstelle von „Ober-grenzen“ wird ausdrücklich unterstützt.
Im Hinblick auf eine kompakte Stadt- oder Quartiers-struktur und einen nachhaltigen Umgang mit der Ressource Boden sowie der Minimierung von Energieverbrauch und Verkehr wird jedoch die Überprüfung der GRZ- und GFZ-Werte in WA und MI empfohlen. Perspektivisch sollte eine Quartiersdichtenbetrachtung angestrebt werden.
Zugunsten einer höheren städtebaulichen Qualität der Außenfassaden mit robusten und dauerhaften Materialien und damit ökologisch sinnvoller und nachhaltiger Bauart bedarf es einer Ermächtigungsgrundlage in §20 BauNVO zur Festsetzung einer Nettogeschossfläche, bzw. Nettogeschossflächenzahl. Ziel ist es darüber eine Grundlage zu definieren, bei der die Flächenanteile der baulichen Außenhülle nicht auf die Ausnutzung eines Grundstücks angerechnet werden.
STUTTGART IM FEBRUAR 2020
Leitung
Prof. Dr. (Univ. Florenz) Elisabeth Merk, Präsidentin Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL), Stadtbaurätin Landeshauptstadt München
Dr. Donato Acocella, Stadt-und Regionalentwicklung
Torsten Becker, ToBe Stadt, Frankfurt
Prof. Dr. Olaf Bischopink, TU Dortmund und Baumeister Rechtsanwälte, Münster
Barbara Ettinger-Brinkmann, Präsidentin Bundesarchitektenkammer
Andreas Feldtkeller, Leiter Stadtsanierungsamt a. D. Tübingen
Mattias Frinken, SRL Architekt und Stadtplaner
Mike Groschek, Minister a. D. für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung, Verkehr Nordrhein-Westfalen
Lydia Haack, 1. Vorsitzende BDA Bayern
Jens Happ, urban future forum und Architekt/Stadtplaner, Frankfurt
Andreas Hild, Hild und K Architekten BDA
Hartmut Hoferichter, Stadtdirektor Solingen und Beigeordneter, Bau und Verkehr Deutscher Städtetag
Annette Kulenkampff, Geschäftsführerin Deutsches Institut für Stadtbaukunst
Hilmar von Lojewski, Beigeordneter des deutschen Städtetages, Leiter des Dezernats Stadtentwicklung, Bauen, Verkehr
Prof. Christoph Mäckler, Direktor Deutsches Institut für Stadtbaukunst
Markus Müller, Präsident Architektenkammer Baden-Württemberg
Anne Luise Müller, Amtsleiterin des Planungsamtes Köln a. D.
Reiner Nagel, Vorsitzender Bundesstiftung Baukultur
Jürgen Odszuck, Erster Bürgermeister Heidelberg, Dezernat für Bauen und Wohnen
Birgit Roth, Wissenschaftliche Leiterin, Deutsches Institut für Stadtbaukunst
Wolfgang Schäfer, Vertretung für Verbandsdirektor des vdW Rheinland Westfalen
Prof. Dr. Wolfgang Sonne, Stellvertretender Direktor, Deutsches Institut für Stadtbaukunst
Jens Walko, Freier Architekt Stuttgart/ Vertretung für DAI
Prof. Jörn Walter, Oberbaudirektor a. D. Stadt Hamburg
Prof. Rolf-Egon Westerheide, BAK Stadtplanung
Dr.-Ing. Irene Wiese-von Ofen, Beigeordnete für Planung, Bau und Boden der StadtEssen a. D.
Martin Witten, BDB Bund
Prof. Dr. Reinhold Zemke, Mitglied im Vorstand der Architektenkammer Thüringen